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23. April 2020

Wolfgang Sréter: Wo gehen Grenzen hin?

 

„Gleich hinter der Grenze beginnt Tschechien, dieses schöne, sanfte Land. Dort ist alles mit Sonne übergossen, vom Licht vergoldet. Die Felder atmen gleichmäßig am Fuß der Tafelberge, die wahrscheinlich nur dazu da sind, um schön zu sein. Die Wege sind gerade, die Flüsse sauber, in den Vorgärten weiden Damwild und Mufflons. In den Kornfeldern tollen kleine Hasen herum, und um sie vorsichtig, aus sicherer Entfernung zu verscheuchen, hängen an den Mähdreschern kleine Glöckchen. Die Menschen haben es nicht eilig, und sie stehen nicht in ständigem Wettstreit miteinander. Sie laufen keinen Hirngespinsten hinterher. Es gefällt ihnen, wer sie sind und was sie haben.“

 

Gut, das ist Literatur, auch wenn man es ernst nehmen muss, denn die Sätze stammen von der Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk (Der Gesang der Fledermäuse, 2009). Allerdings, und das ist vielleicht ein kleiner Makel, hat sie diese höchste Auszeichnung für eine Dichterin rückwirkend bekommen. Das Komitee, bestehend aus gewichtigen Männern mit dicken Brillen, hat für die Entscheidung offensichtlich eine ganze Weile gebraucht.

 

„Tschechien gehört die Zukunft!“ Das wiederum sagte ein Politiker und man weiß sehr wohl, dass Politiker es mit der Wahrheit nicht immer genau nehmen. Mein Freund Jan Skácel behauptete sogar, mit Staatsmännern gebe es immer Sorgen aller Art. Und er fuhr fort: „Wenn uns manchmal von den Sorgen mit dem einen Staatsmann ein anderer befreit, dann erwarten uns gewöhnlich wieder Sorgen mit dem zweiten Staatsmann. So ist es eben in diesem Land“, schrieb er und man kann gar nicht glauben, dass er schon seit November 1989 tot ist.

 

In jenem November kam die Freiheit. Natürlich nicht für uns in Westen, denn wir wurden bereits am 8. Mai 1945 damit beschenkt. Die amerikanischen Soldaten hatten sie im Marschgepäck, zusammen mit Nylonstrümpfen, Erdnussbutter, Chewinggums und Chesterfield. Als ich 1946 zur Welt kam, war die Freiheit schon ganz gut eingeführt, und dort, wo noch etwas fehlte, packte man sie zu Corned beef und Dosenkäse in die Care-Pakete. Manche hatten zwar noch – zur Sicherheit – die alten Überzeugungen im Schrank, aber nach außen hin ließen sie sich nichts anmerken. Das markante Oberlippenbärtchen kam aus der Mode, dafür kamen Persilscheine groß raus.

 

Allerdings kam 1989 auch für uns ein Stückchen mehr Freiheit dazu. War es in den Jahren davor Pflicht, ein Visum im Pass zu haben, damit sich der Eiserne Vorhang einen Spalt breit öffnete, konnte man nun, nachdem von diversen Bürgermeistern diesseits und jenseits der Grenze weiße Bänder durchschnitten, historische Schritte getan und Meilensteine der Geschichte gesetzt worden waren, ungehindert die Nachbarn besuchen. Sie wohnten noch nicht in blühenden Landschaften, das konnte man wirklich nicht behaupten, aber der Duft der Freiheit hing schon in Form von Zigarettenreklame in der Luft.

 

Eigentlich blies bereits 1968 von Prag aus der Frühling einen lauen Wind über die Minen an den Stacheldraht. Gerüchte über eine Grenzöffnung geisterten damals durch die Ortschaften und man träumte von einem gemeinsamen bayerisch-tschechischen Nationalpark. Ein Münchner Reiseunternehmer hatte bereits Krimsekt für eine ausgesuchte Klientel bestellt, aber die Politiker auf beiden Seiten der Demarkationslinie hatten kein Interesse an einer Veränderung des Status quo. Die Gegend um den Stifter-Obelisk wurde noch einmal für mehr als zwanzig Jahre zum verlorenen Winkel am Ende der Welt.

 

Und wahrscheinlich hatten sich die Bewohner der Tschechoslowakischen Sozialistischen Volksrepublik schon damit abgefunden, dass nicht nur der Besuch Deutschlands, sondern auch des neutralen Österreichs für immer schwierig bleiben würde, als plötzlich – wie man sagt: ohne Vorwarnung – die „desolation roads“ an den Grenzen geöffnet wurden. Der Stacheldraht wurde aufgerollt, die Wachtürme abgebaut und die Panzersperren entsorgt, als seien sie nicht mehr zeitgemäß. Eine beliebte Konstante war weggefallen: Die Drohung „Dort drüben steht der Russe“ hatte keine Gültigkeit mehr. Auf beiden Seiten gingen die Schlagbäume auf, und lange Autoschlangen wälzten sich an erstaunten Grenzbeamtengesichtern vorbei. Mithilfe dieser überraschenden Entwicklungen konnten sich Politiker diesseits und jenseits verschiedener Anschauungen vor laufenden Kameras zu ihrer aller Vorteil in Szene setzen.

 

Lange Zeit waren danach die Zollhäuser an der ehemaligen Grenze verwaist. Sie sahen aus, als hätte man sie nach all dem Aufmarsch von Reportern, Mikrofonen und Kameras vergessen. Im Vertrag von Schengen wurde kein Paragraf über den Verkauf oder die Vermietung verankert. Ökonomisch gesehen, ein Versäumnis. Manche träumten schon davon, ähnlich den Passionsspielen, Grenzspiele  zu veranstalten. Sie waren der Meinung, dann hätten die alten Uniformen mit ihren Orden noch einen Sinn und würden regelmäßig in Mottenpulver gebadet und für die Events aufgebügelt.

 

Und nun? Nun sind die Grenzen wieder zurück und es besteht nicht einmal die Möglichkeit, ein Visum zu bekommen. Die Frage eines Spaßvogels: „Wo gehen Grenzen hin, wenn sie nicht mehr gebraucht werden“, muss man folgendermaßen beantworten: Beim geringsten Anlass sind sie wieder zur Stelle, auch wenn sie keinen Stacheldraht, keine Panzersperren und keine „Pozor!“-Schilder mehr im Gepäck haben. Wenn einer Glück hat und „das Doppel einer an das tschechische Innenministerium adressierten Verbalnote der deutschen Botschaft in Prag“ vierundzwanzig Stunden vor der Einreise vorweisen kann, öffnet sich unter Umständen der Schlagbaum.

 

Wer aber hat schon so etwas?

 

 

Wolfgang Sréter, geboren 1946 in Passau, Studium der Volkswirtschaftslehre und Soziologie. Seit 1988 freischaffender Autor und Fotograf sowie Dozent für Kulturmanagement und interkulturelles Lernen. Mitglied bei „Reporter ohne Grenzen“. Vorstandsmitglied des Adalbert Stifter Vereins.

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