DeutschEnglischTschechisch
FacebookYoutube

18. Juni 2020

Jurko Prochasko: Die unbeständigen Denkmäler

 

Diese Glosse sollte ursprünglich mit der Einschränkung „in unserem Teil Europas“ versehen sein, aber während des Schreibens kamen die Ereignisse in anderen Teilen Europas und der Welt, und nun stellt sich die Frage, ob sich das, was ich meinte, nun wirklich nur auf unsere Breitengrade bezieht. Die Denkmal-Debatte in der Tschechischen Republik, die zu einem Debakel der Diplomatie ausgeartet ist, die Republikaner-Denkmäler in den protestierenden USA, die Frage, ob nicht auch der früher vielfach gefeierte Winston Churchill ein Rassist war …

 

Die Glosse sollte ursprünglich wie folgt ansetzen:

„Gestern Nacht habe ich geträumt, das Mickiewicz-Denkmal in meiner Heimatstadt soll ersetzt werden. Der schön gegossene, menschlich wohltemperierte polnische Romantiker soll einer noch unbekannten Figur, wohl einem Zeitgenossen aus der Gegenwart, weichen, doch wer das sein mag ist noch vollkommen offen, vielleicht sogar völlig egal. Dabei war die gesamte Aktion in meinem Traum mitnichten gegen den „Propheten“ gerichtet, auf gar keinen Fall, der hat nun wirklich niemandem was angetan, gegen ihn bestand kein Gram, keine Wut, keine Schuld wurde ihm spät und nachträglich angelastet, nichts wurde in den Annalen entdeckt, was ihn für unsere Gegenwart hätte disqualifizieren können. Es ging vielmehr darum, dass es ein sehr schöner Platz ist, den er einnimmt, und auf diesen Platz hatte man es eben abgesehen. Soweit der Traum.

 

Es ist tatsächlich ein sehr schöner Ort, der Mickiewicz-Platz im alten Stanislau, dem heutigen Iwano-Frankiwsk. Er gehört zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen. Kein Wunder, denn für eine ruhige Stunde mit dem schlafenden Kind im Kinderwagen ist dieser in der City gelegene, kleine, aber sehr mondäne, sehr gediegene Platz vor dem alten Stadttheater, der heutigen Philharmonie, mit seinen vielen gemütlichen und schattigen Bänken und seinem ergreifend altertümlich gehaltenen, tadellos gepflegten Blumenbeet mit atemberaubenden, virtuosen und doch schlichten Farbmustern, wie geschaffen. Säuglinge schlafen in ihren Kinderwagen, etwas größere Kinder spielen, Eltern chatten und surfen, Alte sitzen und lesen, ältere Herrschaften spielen Schach, die Tauben machen es sich gemütlich, beinahe bewegungslos, auf dem holden, inspirierten, kraushaarigen Haupt und den nicht allzu breiten Schultern des Poeten. Über allem und in allen die unnachahmlich laue Sommerträgheit, die eine Ahnung von Ewigkeit, oder vielmehr Zeitlosigkeit, aufkommen lässt.

 

Viel später, als Erwachsener schon, erfuhr ich, dass es tatsächlich eine Zeit gab, als Mickiewicz für mehrere Jahre von seinem Sockel verschwand. Die polnische Gemeinde hatte während der NS-Besatzung Stanislaus, wohlwissend um den Hass und die Zerstörungswut, die die Nazis der polnischen Kultur in allen ihrer Erscheinungsformen entgegenbrachten, das Denkmal heimlich demontiert und versteckt, und erst nach dem Rückzug der Deutschen wieder ausgegraben und aufgestellt.

 

Was mich an dieser Geschichte verblüffte, war nicht dieser Vorfall mit dem Verstecken und Wiederinstallieren an sich. Es waren vielmehr die Ungereimtheiten in dieser Geschichte, die bei mir Verwirrung auslösten. Denn erstens gab es in Lemberg, wo ich inzwischen wohne, ein viel größeres, unvergleichlich imposanteres Mickiewicz-Denkmal, das während der Besatzungszeit nicht versteckt wurde und dennoch unversehrt stehen blieb: Dort hatten die Nazis zwar bereits in den ersten Tagen ihrer Präsenz mehrere Dutzend polnische Wissenschaftler und Forscher samt ihren Familienmitgliedern exekutiert, am Denkmal jedoch zeigten sie sich völlig desinteressiert. Das andere, vollkommen Unverständliche, bestand darin, dass auch die Sowjets nach dem Kriegsende, als sie sich an die Zwangsdeportationen der polnischen Bevölkerung aus Ostgalizien und Westwolhynien machten, die beiden Mickiewiczs, den Stanislauer, und den Lemberger, weder mitgehen ließen, noch entfernten, so dass die beiden bis heute da stehen, mitten in diesen beiden ukrainisch gewordenen Städten, wo sie auch vor dem Krieg standen. Kornel Ujejski, König Jan III. Sobieski und der große Komödienautor Graf Alexander Fredro wanderten in die neu geschaffene Volksrepublik Polen und stehen – oder im Falle Fredros eher: sitzen – jetzt in Szczecin, Gdańsk oder Wrocław, die Mickiewiczs aber blieben.

 

Die Frage war nicht: Warum hatten die Sowjets den Mickiewiczs nichts angetan? Sondern: Wieso haben sie sie überhaupt behalten und nicht gehen lassen wollen? Wozu brauchte man in den weitestgehend entpolonisierten Städte noch polnische Nationaldichter? Meine Vermutung ist: es war wegen der verordneten Völkerfreundschaft, die nun zwischen der UdSSR und ihren mitteleuropäischen Satellitenstaaten zu blühen hatte. Das war ganz geschickt, denn sie mussten dazu keine Kosten aufbringen, da diese Denkmäler ja schon viel früher entstanden waren. Die ganze Kunst bestand jetzt nur noch darin, sie nicht kaputtzumachen und einfach stehen zu lassen. Es ging also um eine rasche, aber konsequente „Umkontextualisierung“ des bereits Vorhandenen, und eine neue Sinngebung. (Das wunderschöne marmorne Postament des armen Ujejski habe ich Jahre später auf dem Gelände der Hochschule für Tiermedizin identifiziert, ganz verwaist und verloren).

 

Am deutlichsten zeigt diesen Wandel die jetzige Hauptstraße von Lemberg, der Freiheitsprospekt. Nachdem Jan III. Sobieski dort verschwunden war, während der gute Mickiewicz blieb, entstanden und verschwanden dann im Laufe der darauffolgenden Dezennien mehrere Monumente: das für die Stalinsche Konstitution, der große Granitkubus mit den in Frakturschrift gemeißelten Lettern: Adolf-Hitler-Ring, das Lenin-Denkmal vor der Oper, das 1990 im Zuge der Demontage in seinem Sockel viele Mazewas aus dem von den Nazis zerstörten und von den Sowjets dann restlos niedergerissenen Alten Jüdischen Friedhof von Lemberg offenbarte. Dafür kamen nach 1991 neue Denkmäler in das ukrainische Lemberg, welche die gesamte während der Jahrhunderte unterdrückte Sehnsucht nach eigener Semiosis verraten, allen voran das kolossale Taras-Schewtschenko-Denkmal. Dann kam der russische Überfall und damit die Einsicht der Notwendigkeit der Dekommunisierung. Hunderte Denkmäler aus der Sowjetzeit wurden entfernt, Tausende Orte umbenannt. In den russisch besetzten Teilen der Ukraine geschieht inzwischen das Gegenteil: dort werden Orte wieder sowjetisch zurück benannt und neue russisch-imperiale Monumente enthüllt. Diese Enthüllung ist in Wirklichkeit eine Entblößung.

 

Wenn man etwas lernen kann aus Lemberg, aus der Ukraine, aus Osteuropa, dann ist es dies: kein Denkmal, sei es auch noch so schwer, wuchtig oder gigantisch, kann sich in diesem Teil der Welt seiner dauerhaften Existenz sicher sein. Wir bleiben nach wie vor Gesellschaften mit völlig offenen, allen Winden ausgesetzte Vergangenheiten.“ Selbstzitat Ende.

 

Zusatz heute: alle sind wir heutzutage Gesellschaften mit unentschiedenen Vergangenheiten.

 

Juri Bohdanowytsch Prochasko, 1970 in Iwano-Frankiwsk geboren, ist Germanist, Schriftsteller, Übersetzer und Psychoanalytiker. Er ist am Psychoanalytischen Institut der Universität Lemberg sowie am Iwan-Franko-Institut für Literaturforschung der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften tätig, wo er u. a. zu den Literaturen in Galizien arbeitet. Forschungsaufenthalte führten ihn wiederholt nach Deutschland, u. a. in das Künstlerhaus Villa Waldberta bei München und ins Wissenschaftskolleg zu Berlin. Er war Referent bei den „Karlsbader Literaturtagen 2018“ des Adalbert Stifter Vereins.

 

mehr

Menü

Menü schließen

Gefördert von:

Kontakt
Presse
Newsletter
Datenschutz
Impressum
Sitemap

Diese Website verwendet Cookies auschließlich zur essentiellen Funktionalität, es erfolgt keinerlei automatische Erfassung Ihrer personenbezogenen Daten oder Ihres Nutzungsverhaltens – nähere Informationen hierzu finden Sie unter Datenschutz.

OK