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Leo(pold) Perutz

Werkbeispiel: Die dritte Kugel (München: Langen 1915)

 

Der erste Roman Leo Perutz’, dessen Genese nach Aussage seines Schulfreundes Arnold Bermann bis in die Gymnasialzeit des Autors zurückreicht, spielt wie etwa die Hälfte seiner Texte in einer konkreten historischen Situation, in diesem Fall im 16. Jahrhundert während der Eroberung Mexikos durch Ferdinand Cortez (Binnenhandlung) und am Ende des Schmalkaldischen Krieges (Rahmen). Perutz stützte sich dabei vermutlich auf William H. Prescotts Geschiche der Eroberung von Mexico (dt. 1845) sowie die autobiographische Darstellung der Eroberung durch Cortez selbst. Hauptfigur ist der trotz seines lutherischen Glaubens auf seiten Karls V. gegen den Bund protestantischer Landesfürsten kämpfende Hauptmann Glasäpflein – den Namen trägt er wegen seines Glasauges. Dieser wird im Feldlager der kaiserlichen Truppen von Erinnerungsfragmenten heimgesucht, die er nicht einzuordnen vermag. Mit Hilfe eines alchimistischen Trankes möchte er seine vergessene Vergangenheit wiedergewinnen. Sein Wunsch scheint sich durch einen spanischen Offizier, der als Binnenerzähler die Geschichte des Wildgrafen zu Grumbach und am Rhein vorträgt, zu erfüllen.

 

Grumbach flieht wegen seines Glaubens und der Beteiligung an den Bauernkriegen in die Neue Welt und will dort die Ureinwohner vor den spanischen Invasoren beschützen. Gefangen im Lager des Cortez, gelingt es ihm mit Hilfe eines Teufelspakts, beim Würfelspiel eine Arkebuse zu gewinnen. Der unglückliche Verlierer, von Cortez ob seiner Unvorsichtigkeit mit der Todesstrafe bedacht, verflucht vor seinem Tod die drei Kugeln der Feuerwaffe: „Und daß die erste Kugel deinen heidnischen König treffen möge und die zweite deine höllische Dirne […] Und die – dritte – dich – selbst!“ Der Text berichtet nun im weiteren von der Erfüllung dieses Fluchs, also zunächst der Ermordung Montezumas durch Grumbach. Dieser provoziert damit einen Aufstand der „Indios“ und initiiert ein beispielloses Blutvergießen in der Hauptstadt Tenochtitlan, das gleichwohl nicht zur endgültigen Vernichtung der Spanier führt. Beim Versuch, seinen Rivalen und langjährigen Gegner, den Herzog von Mendoza – wie er selbst ein unehelicher Sohn des vorigen spanischen Königs Philip I. –, zu töten, trifft die zweite Kugel tatsächlich Grumbachs einstige indianische Geliebte Dalila, die sich inzwischen seinem Halbbruder zugewendet hat. Und auch die dritte Kugel scheint ihr Ziel gefunden zu haben, gilt der Wildgraf doch seit diesem Erlebnis als tot.

 

Beim Übergang zurück zur Rahmenerzählung („Finale: Die dritte Kugel“) überstürzen sich die Ereignisse: Hauptmann Glasäpflein ist sich für einen Moment seiner Identität mit Grumbach bewusst, die vom Text bereits zuvor nahegelegt wurde – wegen einiger übereinstimmender Merkmale (etwa das verlorene linke Auge) der beiden Figuren, vor allem aber wegen des Dieners Melchior Jäcklein. Dieser hat zwar mit Grumbach die Seiten gewechselt, gibt seinen Unmut über dessen Verrat aber immer wieder physiognomisch zu erkennen – die einzige Ausdrucksform, die ihm bleibt, seit ihm von den Spaniern die Zunge herausgerissen wurde. Doch im selben Moment, da Glasäpflein seine Identität wiedergefunden zu haben glaubt, beendet Jäcklein die Erzählung des Spaniers durch einen Schuss aus seiner Arkebuse – es mag sich damit um die titelgebende dritte Kugel handeln – und damit die Selbstfindung der Hauptfigur. Denn da der Schluss der Binnenerzählung fehlt, der die Erklärung für den Identitätswechsel hätte liefern müssen, verblasst die Erinnerung Glasäpfleins sofort wieder und somit auch das Bewusstsein seiner eigentlichen Identität: Devot verneigt er sich vor dem durchs Lager reitenden spanischen Herzog Mendoza.

 

Das Raffinement der Handlungskonstruktion speist sich vor allem aus einer Konstellation, die für alle historischen Romane des Autors charakteristisch ist: Da der Hauptmann den Erinnerungstrank des Alchimisten nicht ganz austrinken konnte, ist das Selbstfindungsprojekt von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Angesichts der Sicherheit des Ausgangs – spätestens mit der präzisen Erfüllung der Prophezeiung bei den ersten beiden Kugeln ist klar, dass auch die dritte ihr Ziel finden wird –, konzentriert sich das Interesse von Erzähler und Leser auf das Wie. Und auch ohne den Fluch determiniert schon die Stoffwahl – die Geschichte der Eroberung Mexikos ist bekannt – das Ende der Handlung. Damit ist, wie im Œuvre des Autors häufig, eine fatalistische Weltsicht verknüpft, die das Scheitern der Figuren in ihrem Ringen um individuelle Werte ebenso für ausgemacht hält wie die schlimmstmögliche Wendung historischer Ereignisse.

 

Die Sympathie der obersten Textinstanz gehört dabei den Verlierern der Geschichte, den „Indios“ ebenso wie den lutherischen Rebellen und Bauern. Während diese um ihr Leben und das Existenzminimum kämpfen, geht es den gegnerischen (katholischen) Spaniern nur vordergründig um ideelle und religiöse Werte. Tatsächlich lockt sie das Gold der Mexikaner und die Arbeitskraft der armen Bauern in Europa. Obwohl sich die vor feudaler Ausbeutung geflohenen Deutschen mit den Azteken verbünden und dank der taktischen Versiertheit Grumbachs sowie eines Teufelspaktes auch einige Vorteile verschaffen können, ist der Sieg der zahlenmäßig überlegenen und von skrupellosen Befehlshabern geführten Spanier letztlich unausweichlich. Die drei Teufelspakte der Europäer heben sich gegenseitig auf, der Teufel selbst ist der Betrogene, haben ihm doch seine Vertragspartner jeweils etwas versprochen, worüber sie gar nicht verfügen: Cortez hat ihm sein Herz verschrieben, obwohl alle wissen, dass er einen Stein in der Brust trägt; Mendoza sein Blut, obwohl ihm als Erbe seiner maurischen Mutter nur Sand in den Adern rinnen soll; und Grumbach verspricht sein linkes Auge, das er bei der Rettung Dalilas bereits verloren hat.

 

Nicht nur in ihren Defiziten gleichen sich die europäischen Eindringlinge: Sie alle träumen einen „Traum von Deutschland“, ihre eigentlichen Motive liegen außerhalb des fremden Landes, in dem jeder auf seine Weise individuelle Ziele verfolgt. Die „Indios“ selbst sind auch für Grumbach nur Mittel zum Zweck und erscheinen als ein „Volk von Tänzern, Mönchen und Kindern“, die „sich ihrer Feinde selbst nicht zu erwehren“ wissen. Dies unterscheidet den Roman innerhalb der Frühen Moderne von anderen Darstellungen der spanischen Eroberung wie etwa Eduard Stuckens Die weißen Götter (1917–22), der auch die grausamen Rituale der Azteken ausführlich thematisiert.

 

Zeitgenössische Rezensenten wie Paul Frank, Richard A. Bermann und Kurt Tucholsky rühmten das authentische historische Kolorit, „das altertümliche Deutsch“ (Tucholsky), vor allem aber die spannende Geschichte, die „packt, festhält und überhaupt nicht mehr losläßt“ (Frank). Hans-Harald Müller zufolge hat sich Bertolt Brecht von dem Roman zu der Ballade von des Cortez Leuten anregen lassen. Eine zunächst geplante Verfilmung des Werks scheiterte, wie aus einem Brief Mirko Jelusichs hervorgeht, 1919 an den Produktionsbedingungen nach dem Ersten Weltkrieg.

 

Ausgaben

 

München: Langen 1915. – 6.–7. Tsd. o. J. – [mit dem Untertitel „Die Abenteuer des Wildgraf zu Grumbach“] Berlin: Deutsche Buch-Gemeinschaft [1928] – Linz: Österreichischer Verlag für Belletristik und Wissenschaft [1947] – Wien, Hamburg: Zsolnay 1978 (= Die phantastischen Romane) – München: dtv 1981 (= dtv phantastica, 1869) – Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1987 (= rororo, 12198) – München: Knaur 1993 (= Knaur-TB, 3204) – [hg. u. mit e. Nachw. v. Hans-Harald Müller] Wien: Zsolnay 1994 – München: dtv 2007 (= dtv, 13579).

 

Sekundärliteratur

 

Lüth, Reinhard: Leo Perutzs Roman ‚Die dritte Kugel‘ (1915). In: Quarber Merkur 23 (1985), H. 63, S. 15–35.

 

Mandelartz, Michael: Poetik und Historik. Christliche und jüdische Geschichtstheologie in den historischen Romanen von Leo Perutz. Tübingen 1992 [Aachen, TH, Diss. 1989].

 

Meister, Jan Christoph: Das paralogische Lesen von Identität. Leo Perutz Roman ‚Die dritte Kugel‘. In: Modern Austrian Literature 22 (1989), S. 71–91.

 

Jacquelin, Évelyne: „Et le verbe s’est fait chair“. Formules magiques et malédictions dans ‚La troisième balle‘, de Leo Perutz. In: Jean-Jacques Pollet (Hg.): Leo Perutz ou l’ironie de l’histoire. Rouen 1993, S. 53–65.

 

Müller, Hans-Harald: Brechts „Ballade von des Cortez Leuten“. Struktur, Quelle, Interpretation (samt Anmerkungen zur Theorie und Methodologie). In: Zeitschrift für deutsche Philologie 112 (1993), H. 4, S. 569–594.

 

Chassagne, Jean-Pierre: L’ironie du récit dans ‚La troisième balle‘ de Leo Perutz. In: Lucien Calvié (Hrsg.): Écriture comique, écriture politique. Grenoble 1996 (= Chronique allemandes, 5), S. 63–74.

 

Müller, Hans-Harald: Identitäts-Konstruktionen. Zur Architektur von Leo Perutz’ Roman ‚Die dritte Kugel‘. In: Kindt, Tom/Meister, Jan Christoph (Hrsg.): Leo Perutz’ Romane. Von der Struktur zur Bedeutung. Tübingen 2007 (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, 132), S. 11–21.

 

Aust, Hugo: Geschichte als erinnernde Wiederholung: Leo Perutzʼ Die dritte Kugel. In: Zagreber Germanistische Beiträge. Jahrbuch für Literatur- und Sprachwissenschaft 17 (2008), S. 3–12.

 

Nikula, Henrik: La mode se démode, le style jamais. Zur ‚Sprache‘ des Exotischen. In: Kari Keinästö/Doris Wagner/Mia Raitaniemi/Tuomo Fonsén (Hrsg.): Herausforderung Sprache und Kultur. Festschrift für Matti Luukkainen zum 75. Geburtstag. Helsinki 2012 (= Mémoires de la Société Néophilologique de Helsinki, 85), S. 209–223.

 

 

Franziska Mayer

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