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11. Juni 2020

Dagmar Leupold: Spuren

 

Vor vierzehn Jahren ereignete sich das sogenannte Sommermärchen, ganz Deutschland fieberte. Und es hinterließ Spuren: Abertausende von Fähnchen in den deutschen Nationalfarben flaggten traurig auf den Grünstreifen der Autobahnen, säumten die Einkaufswege der Fußgängerzonen, dümpelten auf von Picknicks gemarterten Wiesen und von Public Viewing heimgesuchten Plätzen. Nass geregnet oder sonnenverbrannt, nicht länger stolze Siegersignale, sondern mickrige Wimpelchen. In diesem Frühjahr ging das Fiebern wieder los, diesmal von keiner Märchenerzählung verklärt, und der Champion stand von Beginn an fest: das Covid-19-Virus. Auch es hinterlässt sichtbare Spuren auf Straßen, entlang der Spazierwege und rund um die Bänke, die wir, lange Zeit maximal zu zweit, für die einzigen uns erlaubten öffentlichen Auftritte nutzten: Überall liegen sie herum, die Masken, mal klinisch weiß, mal bayrisch-blau, mal psychedelisch bunt. Man umkurvt sie mit ähnlicher Abscheu wie die Hinterlassenschaften von Hunden. Eine Nation von Bankräubern geht einkaufen und fährt, behandschuht und mit warnendem Blick – noli me tangere –, in den öffentlichen Verkehrsmitteln, die, so die Angst, mehr dem erleichterten Virusverkehr dienen als dem Transport zum Arbeitsplatz.

 

Das schlägt aufs Gemüt, ebenso wie die überschießenden Reaktionen präpotenter Autokraten, die Corona instrumentalisieren, um ihre Machtansprüche jenseits demokratischer Kontrolle zu verstetigen. Ansteckungsgefahr immens. Und der Mundschutz hülfe, selbst wenn sie ihn tragen würden, nichts bei Demagogen, Wortverdrehern und Lautsprechern; wir dagegen stehen vermummt und verstummt in einer aufs dürftigste Maß geschrumpften Öffentlichkeit, den Zollstock im Anschlag. Es fehlt nicht an Radiodiskussionen, Talkshows und politischen Magazinen, in denen das immer gleiche Dutzend an Experten zu Wort kommt und sich wechselseitig in dasselbe fällt. Nichtsdestotrotz bleibt die Rede vom „neuartigen Virus“ unverändert, wie die von der Chance, die in jeder Krise liegt, auch und wie der beinahe wöchentlich abgelieferte Dank an die schlecht Bezahlten und Ausgebeuteten. Wenn etwas in den letzten drei Monaten in voller Blüte steht (und auch die Nachtfröste im Mai konnten daran nichts ändern), dann ist es die Rhetorik: Überall werden Hohelieder angestimmt, sprachlich elaboriert, auf die Helden des Alltags, auf die tapferen Kinder und Mütter, auf die systemrelevanten Helferinnen und Helfer etc. Echtes Lob aber wird sparsam ausgeteilt und nicht mit dem Rasensprenger. Und es muss sich kritisch mit den Mängeln des Status quo befassen, denn seine – des Lobes – Substanz bemisst sich an den Veränderungen, auf die es dringt. Hier kommen Kunst und Kultur als Korrektive (und sträflich Vernachlässigte) ins Spiel, als Plattform einer gesellschaftlichen Selbstverständigung, als kritischer Kommentar jenseits eingeübter Diskurse und konfektionierter Demarkationslinien und als Wahrnehmungskorrektiv eines eingeschliffenen und allzu oft ego-zentrischen Blicks auf gesellschaftliche Wirklichkeit.

 

Vernünftige und beherzte Stimmen tun da gut und not. Wie dieser Tage diejenige Helmut Lachenmanns, der im Interview mit der Süddeutschen Zeitung, zur Rolle der Kunst in der Demokratie gefragt, folgendes antwortet:

 

„Wenn Demokratie dem Menschen den Rahmen gewährleisten soll, das Beste in sich menschenwürdig zu verwirklichen, dann sollten ihre gewählten Repräsentanten auch in krisenbelasteten Zeiten den Stellenwert der Kunst und die Unverzichtbarkeit der Einrichtungen und derer erkennen, die der Vermittlung dieser Erfahrung dienen.“

 

Es gibt und gab sie, diese Vermittler, und damit sie Spuren sichern können, müssen sie die von Lachenmann eingeforderte Wertschätzung erfahren. Auch Stifter war – und ist – ein solcher Vermittler. Es lohnt sich, ein schönes, im Nachsommer geprägtes Wort ins Gedächtnis zu rufen: Der Mensch, heißt es da, ist in der Geschichte der Erde lediglich ein Einschiebsel.

 

Ein Aufruf zur Bescheidenheit? Gar zum resignierten Nichtstun? Keineswegs. Vielmehr eine schöne Aufforderung, die Einschiebsel-Zeit achtsam, verantwortlich und phantasievoll zu nutzen. Und auf diese Weise wegsame Spuren zu hinterlassen. Den Rest – die Entfernung der welken Masken – besorgt die zurecht hochgelobte Müllabfuhr.

 

Dagmar Leupold, geboren 1955 in Niederlahnstein, studierte Germanistik, Philosophie, Altphilologie und Komparatistik in Marburg, Tübingen und New York, wo sie 1993 promovierte. Sie leitet das Studio Literatur und Theater der Universität Tübingen und lebt als freie Schriftstellerin in München. Zuletzt erschienen im Salzburger Verlag Jung und Jung der „Abenteuerroman“ Die Witwen (2016) und der Roman Lavinia (2019).

 

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