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25. Juni 2020

Daniela Strigl: Wüste gesucht – vom Zauber des Realen

 

Dieser Tage soll ich an der Allameh Tabataba’i Universität (ATU) in Teheran Vorlesungen über österreichische Literatur halten, von Marlen Haushofer bis Elfriede Jelinek. Natürlich nicht wirklich, ich fliege nicht in den Iran, wo die Universitäten nach wie vor geschlossen sind, ich bleibe hübsch brav zu Hause und lese virtuell. Nun hat sich eine Frage aufgetan, die mir das Problem der Unterscheidung von real und virtuell sehr konkret vor Augen führt: Meine Gastgeberin hat mich gebeten, mich der Kopftuchpflicht zu unterwerfen, die, da die ATU eine staatliche Universität sei, auch für ausländische Gäste gelte.

 

Ohne die persische Kollegin in Schwierigkeiten bringen zu wollen, erkenne ich eine gewisse logische Unschärfe: Auf iranischem Boden gilt im öffentlichen Raum Kopftuchpflicht für alle Frauen, gut – oder auch nicht. Aber ich bin nicht in der Islamischen Republik Iran, ich bin in Österreich, in Wien, genauer: ich befinde mich in meinen eigenen vier Wänden. Die diplomatischen Damen des Österreichischen Kulturforums empfehlen Konzilianz. Ich vermute ja, dass die Sprengkraft der Jelinek’schen Literatur allemal größer ist als die, die vom uneingeschränkten Anblick meiner Haare ausgehen könnte.

 

Es scheint, als hätten wir uns in den vergangenen Monaten daran gewöhnt, virtuelle und physische Präsenz gleichzusetzen, da wir nun einmal aus der Not des Kontaktverbots eine Tugend machen mussten. Und weil wir uns daran gewöhnt haben und es ja auch bequemer ist, vom Fauteuil zum Schreibtisch zu wechseln als durch die halbe Stadt zu fahren, halten wir an der Besprechung oder am Seminar per Videokonferenz fest, obwohl die Vorschriften uns diesbezüglich nichts mehr vorschreiben. Viele Universitäten planen bereits, die Präsenzlehre künftig auch ohne Seuchendruck zu einem Gutteil durch „Home Teaching“ zu ersetzen. Auf diese Weise spart man Raumbedarf und damit Kosten ein, man leistet der Kommerzialisierung des Bildungswesens Vorschub (einem Modulsystem, das per Fernstudium konsumierbar ist) und, das unterstelle ich jetzt, schränkt zugleich die Zahl der Gelegenheiten ein, bei denen die User miteinander spontan kommunizieren und womöglich auch konspirieren könnten. Nicht wenige Universitätslehrer haben dieses außerordentliche Semester online im Ausland oder im Wochenendhaus verbracht und hatten wenig Interesse an einer raschen Rückkehr zum Normalbetrieb. Aber immerhin haben bereits über fünftausend einen Offenen Brief „Zur Verteidigung der Präsenzlehre“ unterschrieben. Nach ihrem Verständnis sollte die Universität als Ort der persönlichen Begegnung und der kritischen Auseinandersetzung erhalten bleiben.

 

Außerdem gibt es auf dem Weg vom realen zum digitalen Sprechen, Lehren und Prüfen sehr wohl Verluste zu beklagen. In meinem Seminar war die Bereitschaft zum Mitreden und Diskutieren zunächst viel schwächer ausgeprägt als im Hörsaal. Das mag mit der Technik zu tun haben, die Einwürfe erschwert. Auch mit dem schwierigen Überblick über eine Galerie von Porträts. Außerdem artikuliert sich das jeweilige Gegenüber nur in seiner Mimik, nicht in seiner Ganzkörper-Sprache. Auch Studentinnen und Studenten fühlen sich unbehaglich im Online-Diskurs, sie vermissen Anregungen durch das informelle Gespräch, im Zweifel wünschen sie sich die alte Normalität mündlicher (Abschluss-)Prüfungen.

 

Die allgemeine Propagierung des Sicherheitsabstands hat dem Bedürfnis nach Präsenz keinen Abbruch getan. Marlene Streeruwitz, die mit einem Online-Roman in Fortsetzungen auf das Stationendrama des „Lockdown“ reagiert, erzählt von der digitalen Praxis des „Weintrinkens aus der Ferne“: Menschen kochen sich etwas Feines und verabreden sich mit einem Glas Wein vor dem Bildschirm – um Speis und Trank gemeinsam zu genießen. Ich frage mich, warum das für mich eine zutiefst trübselige Vorstellung ist. Vielleicht, weil wir für das Erlebnis von Begegnung die Aura der körperlichen Gegenwart brauchen, auch wenn wir uns in einer physischen Tafelrunde nicht viel anders verhalten würden. Allein die Möglichkeit der Berührung verleiht dem Treffen eine andere Qualität.

 

Inmitten einer Krise oder gar Katastrophe steigt die Sehnsucht nach dem Authentischen. Einerseits weil kollektive wie individuelle Angst ein Produkt von Spekulationen und Unwägbarkeiten ist. Andrerseits wohl auch, weil die Lage, mit der sich alle konfrontiert sehen, die Macht des Faktischen darstellt, etwas, zu dessen Imaginierung man in normalen Zeiten visionäre Kräfte gebraucht hätte. In Marlen Haushofers Roman Die Wand (1963) resümiert die Erzählerin den menschlichen Mangel an Phantasie: „Hätte sich die Katastrophe in Belutschistan abgespielt, säßen wir völlig ungerührt in den Kaffeehäusern und läsen darüber in der Zeitung. Heute sind wir Belutschistan, ein sehr entferntes fremdes Land, von dem man kaum weiß, wo es liegt“. Nicht zufällig ist auch in Albert Camus’ Roman Die Pest (1947) des Öfteren von der Phantasie die Rede, die es benötige, um die Seuche wirkungsvoll zu bekämpfen. Und auch das Motto des Buches, das von Daniel Defoe stammt, fordert die Bereitschaft des Lesers zur kreativen Übersetzungsleistung ein: „Es ist ebenso vernünftig, eine Art Gefangenschaft durch eine andere darzustellen, wie irgendetwas, was wirklich existiert, durch etwas, was nicht existiert.“

 

Um Wirklichkeit wahrzunehmen bedarf es also eines Sinnes für das Mögliche. Karl Kraus war gleich für die Umkehrung des Verfahrens: „Passende Wüste für Fata Morgana gesucht.“ 

 

Daniela Strigl, geboren 1964 in Wien, studierte Germanistik in Wien, promovierte über Theodor Kramer und habilitierte sich mit einer Biographie Marie von Ebner-Eschenbachs (Berühmt sein ist nichts, 2016). Sie publiziert Essays und Kritiken in überregionalen Medien (Der Standard, FAZ, Die Zeit, Literatur und Kritik u.a.), war Mitglied der Jury des Ingeborg Bachmann Preises und erhielt mehrere Literaturpreise, darunter 2001 den Österreichischen Staatspreis für Literaturkritik und zuletzt 2019 den Merck-Preis für literarische Kritik und Essay. Seit 2007 lehrt sie an der Universität Wien Neuere deutsche Literatur.

 

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