Ein Nachruf von Peter Becher
Mit Peter Demetz, der das unglaublich hohe Alter von 101 Jahren erreicht hat, ist der letzte der großen Prager Germanisten gestorben, nach Hugo Siebenschein, Eduard Goldstücker und Kurt Krolop. Wen auch immer man von Demetz sprechen hörte, stets war die Stimme einen Grad wärmer und einen Ton heller. Als Prager Augenzeuge eines ganzes Jahrhunderts hat er nicht nur erlebnisreiche Kinder- und Jugendjahre in Prag und Brünn verbracht, sondern auch früh erleben müssen, wie seine Lebenswelt immer enger und bedrohlicher wurde, wie der nationalistische und rassistische Wahn das fragile Gebilde der tschechoslowakischen Demokratie in wenigen Jahren zerstörte, eine Demokratie, die vielleicht zu einem stabilen Faktor der mitteleuropäischen Staatengemeinschaft geworden wäre, wenn sie nur 10, 15 Jahre länger Zeit gehabt hätte, ihre unterschiedlichen Nationalitäten zu integrieren und ein gemeinsames Staatsempfinden zu entwickeln.
Wieviel Kraft muss es gekostet haben, nach der Trennung seiner Eltern, dem Tod seiner Mutter in Theresienstadt und der Zwangsarbeit wieder neue Zuversicht zu schöpfen. Wie groß mag schon bald die Enttäuschung nach der kommunistischen Machtergreifung gewesen sein, als er das Siebenscheinsche Seminar verließ und den Weg ins Exil einschlug. Demetz ging über die grüne Grenze nach München, wo er für Radio Free Europe arbeitete, schließlich emigrierte er weiter in die USA, wo er noch einmal studierte, an der Yale University zum zweiten Mal promovierte und dort zuletzt eine Professur für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft innehatte.
Als ich 1986 die Geschäftsführung des Adalbert Stifter Vereins übernahm, hat Demetz auf meine Anfragen zum Tschechoslowakischen Staatspreis postwendend geantwortet, - postwendend, das war damals, als es bei uns weder Fax noch Email gab, noch ganz wörtlich zu verstehen: Die Post brachte mit jedem Brief aus dem Ausland das prickelnde Gefühl einer besonderen Sendung ins Büro, das durch die ausländische Briefmarke und das amerikanische Briefformat ebenso verstärkt wurde wie durch den Absender und die nicht selten handschriftlich verfasste Anschrift.
Das Münchner Kolloquium über Josef Mühlberger (1987) und das Berliner Kolloquium über den Prager Kreis (1988) waren weitere Stationen der Begegnung, aus denen regelmäßige Besuche wurden, wenn der Reiseweg von Demetz nach München führte. Meist war es das Hotel Schlicker im Tal, in dem wir ein Zimmer für ihn besorgten, in dem er gerne abstieg, vielleicht, weil es sich auch "Zum goldenen Löwen" nennt, was eine Reminiszenz an den böhmischen Löwen bewirkt haben mag.
Zu den gemeinsamen Veranstaltungen zählten die "Rede zur Kultur", die Demetz im Rahmen der Bayerisch- Böhmischen Kulturtage 1993 in Passau hielt, und die Begegnung mit Fritz Beer in Brünn ein Jahr später, den wir zu einer Lesung in seiner Geburtsstadt eingeladen hatten. Damals trafen wir tschechische Autoren des PEN-Klubs und der mährisch-schlesischen Schriftstellergemeinde, die auf ihre alten Landsleute neugierig waren, die ihre Sprache so gut beherrschten und schon deshalb zu ihnen gehörten.
Es war stets eine Freude, Demetz zu sprechen und seine Beiträge und Bücher zu lesen. Was er mir und vielen anderen vermittelt hat, geht weit über die bloße Fachlektüre hinaus. Er hat den Menschen meiner Generation Einblicke in die Lebenswelt unserer böhmischen Elterngeneration vermittelt, die wir nirgendwo sonst so stimmgenau, nachdenklich und eindrucksvoll vermittelt bekommen haben.
In der Nacht vom 29. auf den 30. April ist Peter Demetz im Krankenhaus von Highland Park, New Jersey gestorben. Seiner Frau Paola Gambarota, seinem Neffen Peter Brod und allen weiteren Verwandten gilt unser tief empfundenes Mitgefühl.