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30. April 2020

Maskenbaum in Prag
© Christoph Israng, Deutsche Botschaft Prag

Kateřina Tučková: Vom Volk fürs Volk

 

Nein, nicht neue Schuhe. Auch keine neue Jacke, kein neuer Rock. In diesem Frühling müssen wir alle unsere Privatgarderobe um ein völlig anderes Kleidungsstück erweitern – eine Maske. Und unverzüglich. Das Coronavirus könnte überspringen – durch einen einzigen Huster eines anderen Fahrgasts in der Straßenbahn oder Metro, bei jedem Begrüßungsküsschen. Mit der Maske schützen wir uns gegenseitig, ohne sie darf niemand mehr aus dem Haus, so hat es die Regierung mit sofortiger Gültigkeit Mitte März beschlossen.

 

Nur – woher eine solche Maske nehmen?

 

An den Türen der Apotheken hängen noch am selben Tag Schilder „Masken ausverkauft“, und die Online-Shops mit medizinischem Bedarf lassen wissen: „Ware zurzeit nicht verfügbar“. Tausende tschechische Mütter setzten sich also noch in dieser Nacht an die Nähmaschine und nähten nach Schnittmustern, die prompt auf den Seiten der sozialen Netzwerke zur Verfügung standen, Schutzmasken aus zerschnittenen Bettlaken, damit sich die Familie am nächsten Morgen das Gesicht verdecken könnte.

 

Mir wurde nicht gerade handwerkliche Geschicklichkeit in die Wiege gelegt. Also mussten mein Mann und mein Sohn sich in den ersten Tagen mit verschiedensten und wenig gelungenen, rutschenden und sich verwurstelnden Kreationen begnügen, die zu ihrem Verdruss nicht über Mund und Nase halten wollten, bis plötzlich an der Ecke unserer Straße ein Maskenbaum stand.

 

Ein ausgedienter Kleiderständer, festgebunden am Zaun, damit der Wind ihn nicht umstieße, trieb Tag für Tag an kleinen Schleifchen Masken zum Mitnehmen, wie ein handgeschriebenes Schildchen anzeigte. Einfache weiße Unisex-Masken, wohl aus einem Tischtuch zusammengestoppelt, bunte Masken mit Blumenmuster oder meditativen Mandalas, Masken mit lachendem Maulwurf in unterschiedlichen Kindergrößen – jeder konnte sich aussuchen, wonach ihm der Sinn stand. Auch ich habe mir ein paar mitgenommen. Und als Gegenleistung an den Maskenbaum frisch gebackene Kolatschen gehängt, und eine Tasche mit Stoffen und Borten, die ich selbst nicht in das erwünschte Ergebnis hätte verwandeln können. In den Tagen danach erspähte ich im Gesicht eines Passanten ein Stück Hemd von meinem Mann – auf dem Maskenbaum reifte die Ernte aus unseren Quellen.

 

Der alte Kleiderständer, geschmückt und bestückt mit Schutzmasken für die weniger praktisch Veranlagten aus unserer Straße, ist nur eines von vielen Beispielen der bemerkenswerten Solidaritätswelle, von der Tschechien in den letzten Wochen erfasst wurde. Die sozialen Netzwerke gaben Zeugnis davon, dass die Menschen, auch über Nachbarschaftshilfe hinaus, nicht zögerten, sich gegenseitig umfassend zu unterstützen. An die Nähmaschinen setzte sich, wer sich von einem Tag auf den anderen ohne Arbeit sah, aber auch Studenten und Häftlinge, und hinter den Kulissen manch eines geschlossenen Theaters wurde genäht und genäht. Während die frisch gebackenen „Masknerinnen“ und „Maskner“ (wie das tschechische Internet sie bald taufte) zurechtschnitten, zusammensteckten und nähten, sorgten andere freiwillig für die Logistik, brachten Material oder eine Stärkung zu den Näherinnen und die Masken zu denjenigen, die ihrer am dringendsten bedurften. Hunderte davon wanderten auf diese Weise in die Hände des Personals der Pflegeheime, zu Senioren, Behinderten, Obdachlosen, kurz zu allen, denen die Regierung eine Maske verordnet hatte, wobei eben diese Regierung freilich vergessen hatte, die Betreffenden mit dem geforderten Mund- und Nasenschutz auszustatten.

 

Wir wussten uns auch ohne Regierung zu helfen, fast möchte man sagen, nicht ohne Stolz auf die sprichwörtlich goldenen tschechischen Hände, die in den vergangenen Wochen von so vielen goldenen Herzen befeuert wurden. Was jedoch aussieht wie eine löbliche Unterbeweisstellung von Gemeinschaftsgefühl und höchst lebendigem Improvisationstalent, weckt andererseits auch Befürchtungen. Die Menschen sind mit Ausrufung des Notstandes allzu rasch zu jenem Modus Operandi zurückgekehrt, den sie unter dem vorangegangenen Regime erlernt haben, und zusammen mit dem Tragen selbst genähter Maulkörbe haben sie schweigend auch alle weiteren von der Regierung verordneten Restriktionen akzeptiert. Haben ohne Protest das verfassungswidrige Versammlungsverbot hingenommen, die Einschränkung der Bewegungsfreiheit und auch das Herablassen eines Corona-Vorhangs, hinter dem sie nun ebenso festsitzen wie einst hinter dem Eisernen.

 

Die Masken und ihr nicht ausreichendes Vorhandensein, die Masken und ihr Schnitt, ihr Muster, ihre Luftdurchlässigkeit, Masken und wieder Masken haben für einige Zeit alle Gespräche bestimmt, so dass viele vermutlich den Kabinettsentwurf, der für die Zeit des Notstands eine Erweiterung der Machtbefugnisse des Premierministers durchsetzen wollte, gar nicht mitbekommen haben. Auf Druck der Medien wurde dieser Entwurf zum Glück zurückgezogen. Über das herzerwärmende Gefühl flächendeckender Zusammengehörigkeit legt sich inzwischen ein ängstlicher Schatten, die Befürchtung, dass wir in unserer Maskenblindheit am Schluss womöglich gar nicht merken, dass die Regierungsmaßnahmen gegen die Verbreitung des Corona-Virus, die ursprünglich nur vorübergehend gelten sollten, sich unbemerkt in unserem Leben festsetzen, und zwar für immer.

 

Aus dem Tschechischen von Kristina Kallert

  

Kateřina Tučková, 1980 in Brünn geboren, studierte Kunstgeschichte und tschechische Philologie an der dortigen Masaryk-Universität. Sie ist als Kuratorin, Publizistin und Schriftstellerin tätig. Inspiriert durch ihren Roman Vyhnání Gerty Schnirch (2009, deutsch: Gerta. Das deutsche Mädchen, 2018) über die Vertreibung der Brünner Deutschen im Mai 1945 wurde das Festival Meeting Brno ins Leben gerufen, dessen Programmdirektorin sie von 2016 bis 2018 war.

 

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